Interview mit der Neurologin Prof. Dr. med. Luisa Klotz

Bild: Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie, Universitätsklinikum Münster

Ausgabe 2/20 - Prof. Dr. med. Luisa Klotz ist Arbeitsgruppenleiterin und Oberärztin an der Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie am Universitätsklinikum Münster und Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat des DMSG-Bundesverbandes. 

aktiv!: Die MS kann als eine „überschießende“ Reaktion des eigenen Immunsystems gesehen werden. Was bedeutet das in Bezug auf Infektionen? Gibt es Analogien zu anderen Krankheiten? 
Prof. Dr. med. Luisa Klotz: „Bei der Multiplen Sklerose – ebenso wie bei anderen Autoimmunerkrankungen wie der rheumatoiden Arthritis oder der Schuppenflechte, Psoriasis – kommt es zu einer überschießenden Aktivierung ganz spezifischer Immunzellen, die gegen körpereigene Strukturen gerichtet sind. Diese Immunzellen werden vereinfacht gesagt nicht ausreichend durch das Immunsystem kontrolliert. An sich ist jedoch die Funktion des Immunsystems selbst unbeeinträchtigt. Das bedeutet, dass Patienten mit Autoimmunkrankheiten nicht automatisch ein schlechter funktionierendes Immunsystem und damit eine gesteigerte Infektanfälligkeit besitzen.“ 

aktiv!: Was ist über Infektionen und MS bekannt? Was ändert sich durch die Erkenntnisse zum Corona-Virus? 
Luisa Klotz: „Wie bereits dargestellt, ist durch die MS-Erkrankung per se nicht die Infektanfälligkeit erhöht. Eine erhöhte Infektanfälligkeit kann jedoch durch neurologische Defizite im Rahmen der Erkrankung hervorgerufen werden, z.B. durch gestörte Blasen- oder Lungenfunktion oder Immobilität. Zusätzlich können bestimmte Immuntherapien die Funktion des Immunsystems auch bei Infektionen und damit die Infektanfälligkeit selbst verändern. Nach bisherigen Erkenntnissen gelten diese allgemeinen Überlegungen auch für Infektionen mit dem Corona-Virus.“

aktiv!: Bei einer Infektion mit SARS-CoV2 kann auch das zentrale Nervensystem betroffen sein. Gibt es dazu bereits neuere Erkenntnisse? Wie äußert sich das und gibt es einen Einfluss der MS auf die Virus-Infektion und umgekehrt? 
Luisa Klotz:
„In seltenen Fällen kann das Corona-Virus auch das Nervensystem selbst befallen. Dies kann zu ungewöhnlichen Krankheitsmanifestationen wie Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen, in sehr seltenen Fällen auch einen neurologisch bedingten Atemstillstand hervorrufen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es noch keine Daten zu solchen neurologischen Manifestationen speziell bei MS-Patienten. Dennoch ist nach pathophysiologischen Überlegungen nicht davon auszugehen, dass eine solche, ohnehin eher seltene, Manifestation bei MS-Patienten eher auftreten könnte als bei ansonsten gesunden Personen. Generell ist nicht von einem Einfluss der MS auf die Virusinfektion auszugehen. Umgekehrt ist zumindest denkbar, dass – analog zu anderen Infektionen wie z.B. der Influenza – die entzündliche Reaktion im Rahmen der Infektionserkrankung durch die hierbei freigesetzten Entzündungsstoffe unspezifisch die für die MS verantwortlichen Immunzellen aktivieren und hierdurch ein erneutes Schubereignis auslösen können. Bisher gibt es jedoch keine Anzeichen dafür, dass dies bei einer SARS-CoV2 Infektion häufiger geschieht als im Rahmen anderer Infektionen.“ 

aktiv!: Wie können sich MS-Erkrankte vor einer Infektion schützen? 
Luisa Klotz
: „Für MS-Erkrankte gelten grundsätzlich dieselben Schutzmaßnahmen wie für die Gesamtbevölkerung: Reduktion sozialer Kontakte, Einhaltung der Abstandsregeln, häufiges Händewaschen. Lediglich bei speziellen individuellen Konstellationen mit einer erhöhten Infektanfälligkeit aufgrund körperlicher Einschränkungen, weiterer relevanter Begleiterkrankungen oder ganz bestimmter therapeutischer Konstellationen kann eine zumindest temporäre häusliche Quarantäne sowie bei nötigen Kontakten das Tragen von FFP2 Masken empfohlen werden, dies ist jedoch in Einzelfällen und nach individueller Absprache mit dem behandelnden Neurologen zu entscheiden.“ 

aktiv!: Unterscheidet sich der Verlauf einer Covid- 19-Erkrankung bei MS von anderen Patientengruppen? 
Luisa Klotz
: „Nach bisherigen Erkenntnissen unterscheidet sich der Verlauf einer Covid-19-Erkrankung nicht zwischen MS-Patienten und anderen Patientengruppen, dies wurde bereits im Rahmen der schweren ersten Infektionswelle in Norditalien untersucht. Es gibt jedoch – nicht unerwartet – einzelne Berichte über schwerere Verläufe im Kontext bestimmter Immuntherapien. Hierbei ist jedoch klar zu betonen, dass dies lediglich Einzelfallberichte sind, und dass umgekehrt die häufigeren benignen Verläufe in einer identischen Konstellation nicht annähernd in gleichem Umfang berichtet werden. Um dies perspektivisch gut beurteilen zu können, ist eine standardisierte prospektive Datensammlung bei MS-Patienten erforderlich.“

aktiv!: Mit dem „Lean European Open Survey on SARS CoV II Infected Patients“(https://leoss. net) soll der Covid-Krankheitsverlauf bei Patienten europaweit erfasst werden. Liegen Ihnen schon erste Ergebnisse für MS-Erkrankte vor? 
Luisa Klotz:
„Dieses Register dient der systematischen, europaweiten Sammlung von Daten zu Covid-Verläufen und enthält auch ein spezifisches Abfragemodul zur Erfassung der Verläufe bei MS-Patienten. Es gibt bisher hierzu noch keine belastbaren Daten, aber es ist damit zu rechnen, dass wir hier prospektiv sehr gute Daten generieren werden, die uns helfen werden, das Risiko bei bestimmten Patientengruppen und im Kontext bestimmter Therapiekonstellationen besser einschätzen zu können.“ 

aktiv!: Was hat Sie motiviert, einen gesonderten Fragebogen für die Auswirkungen des Corona- Virus auf MS-Erkrankte in der LEOSS-Initiative mit auf den Weg zu bringen? 
Luisa Klotz:
„Wir halten eine systematische, standardisierte und prospektive Datenerhebung für essenziell, um zukünftig spezifischere und belastbare Empfehlungen geben zu können. Eine reine Orientierung nach Einzelfallberichten ist langfristig gefährlich, da es hierbei automatisch zu einer „Überrepräsentation“ schwerer Verläufe kommt, eine Einordnung bezüglich der Häufigkeit solcher Verläufe oder eine systematische Untersuchung weiterer Einfluss nehmender Risikofaktoren ist sonst nicht möglich.“ 

aktiv!: Welche Therapien scheinen bei einer Covid-19-Erkrankung hilfreich zu sein? Was können Sie über deren Wirkmechanismen sagen? 
Luisa Klotz:
„Bisher gibt es letztlich noch keine belastbaren Daten zu nachgewiesen wirksamen Therapien bei der Covid-19-Erkrankung. Erste Erkenntnisse deuten darauf hin, dass zum einen bestimmte antivirale Medikamente den Verlauf der Viruserkrankung günstig beeinflussen können, zum anderen werden aktuell im Rahmen klinischer Studien Medikamente getestet, bei denen der Fokus auf einer Kontrolle der überschießenden Entzündungsreaktion im Kontext der Infektion steht.“ 

aktiv!: Können die MS-Therapien auch schützend wirken? 
Luisa Klotz:
„Hierzu gibt es natürlich noch keine belastbaren Daten, jedoch könnten manche Immuntherapien aufgrund ihrer antientzündlichen Aktivität möglicherweise die bereits beschriebene überschießende Immunreaktion im Verlauf der Infektion eindämmen und sich insofern indirekt günstig auf den Erkrankungsverlauf auswirken. Dies ist jedoch bisher nicht ausreichend untersucht.“ 

aktiv!: Empfehlen Sie, dass MS-Erkrankte sich prophylaktisch auf Corona-Antikörper untersuchen lassen sollten?
Luisa Klotz:
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine solche prophylaktische Untersuchung noch nicht zu empfehlen: Zum einen ist die Qualität der hier verfügbaren Tests noch nicht ausreichend gewährleistet, zum anderen ist bisher noch nicht überzeugend gezeigt worden, dass nachweisbare Immunität (also der Nachweis von Corona-Antikörpern) einen zuverlässigen Schutz vor einer erneuten Infektion bedeutet. In diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass bereits Kreuzreaktionen gezeigt wurden, also es wurden Antikörper nachgewiesen, die jedoch durch andere Infektionen induziert wurden.“ 

aktiv!: Es gibt erste Hinweise auf einen Zusammenhang von Vitamin-D-Level und dem Verlauf von Covid-19. Auch bei der Entstehung von MS scheint Vitamin D eine Rolle zu spielen. Wie schätzen Sie diese Hinweise ein? 
Luisa Klotz:
„In den vergangenen Wochen sind mehrere Studien erschienen, bei denen ein möglicher Zusammenhang zwischen niedrigen Vitamin-D-Spiegeln und einem schwereren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung beschrieben wurde. Letztlich ist jedoch noch gar nicht geklärt, ob es sich hierbei überhaupt um einen direkten Zusammenhang handelt oder ob dies möglicherweise eher durch andere gemeinsame Faktoren indirekt bedingt ist – so ist z.B. ein höheres Lebensalter sowohl mit niedrigeren Vitamin-D-Spiegeln als auch mit einem schwereren Krankheitsverlauf einer Covid-19 Infektion assoziiert. Ich denke, dass es daher noch zu früh ist, um hier einen wirklich pathophysiologisch relevanten Zusammenhang zu postulieren. 
 

  • Kontakt Kontakt
  • Spenden Spenden
  • Mitglied werden Mitglied
  • Zum Seitenanfang